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AutorenbildKetevan von Guria

Die Klaviere in Georgiens Wohnzimmern


Klavier als Zierde in Georgiens Wohnzimmern

Bestimmt ist es Ihnen auch aufgefallen: In annähernd jedem georgischen Haus steht ein Klavier. Ob in Braun oder Schwarz, ob ein russischer Petrof oder sogar hin und wieder ein georgischer Sakartvelo: die mächtigen Musikinstrumente finden sich in vielen georgischen Wohnzimmern. Dabei hat die traditionelle georgische Musik nichts mit dem klassischen Tastenistrument zu tun.


Polyphoner Gesang und Saiteninstrumente...

...sind eng mit der rund 1'500 Jahre alten Musiktradition Georgiens verbunden. Gesungen wurde früher nicht nur in der Kirche, sondern auch bei der Arbeit auf dem Feld, in der Küche oder bei festlichen Anlässen. Bis heute überliefert sind der kirchliche Gesang sowie das gemeinsame Singen bei Feiern und der georgischen Supra. Früher war öffentlicher Gesang Männersache. Heute stehen auch reine Frauenensembles wie das Ensemble Tutarchela aus Rustavi auf der Bühne.


Man braucht nicht viel Musikkenntis, um zu bemerken, dass sich der georgische Gesang elementar vom europäischen unterscheidet. Das liegt am unterschiedlichen Umgang mit Harmonien. Der georgische Gesang lebt von der sogenannten Polyphonie, von Dissonanzen oder Disharmonien. In Westeuropa wurden die georgischen polyphonen Gesänge erstmals durch georgische Kriegsgefangene bekannt, die im ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich auf Tonträgern dokumentiert wurden. 2001 nahm die UNESCO den georgischen Gesang in die Liste der "Meisterwerke des mündlichen und immatriellen Erbes der Menschheit" auf.


Musik ist eine universelle Form der Kommunikation.

Sicherlich haben die georgischen Bauern vor 1'000 Jahren nichts von der heilsamen Wirkung von Musik gewusst, wenn sie singend ihre Felder bestellt haben. Davon, dass sich Musik positiv auf die Gehirnentwicklung auswirkt und die Produktion des Glückshormons Serotonin stimuliert. Aber gespürt haben sie diese Wirkung bestimmt.


Heute wird Musik gezielt als Therapieform bei einer Vielzahl von Krankheiten eingesetzt. Besonders bei Hirnverletzungen, unheilbaren Krankheiten, Demenz, psychischen Problemen und Autismus verzeichnet die Musiktherapie bemerkenswerte Erfolge. Sie trägt auch zur Verbesserung der Gedächtnisleistung bei, da sie bestimmte kognitive Bereiche wie Sprache und Aufmerksamkeit stimuliert. Im Allgemeinen erhöht Musik die Kommunikationsfähigkeiten, da sie aktives Zuhören, Pausen zwischen den Musikstücken und Abwechslung erfordert. Musik hat somit das Potential, unsere Beziehung zu unserer Umgebung zu verbessern.


Doch trotz all diesen eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen hat aktives Musizieren heute in Georgien einen schweren Stand. Immer wieder stoße ich auf Unverständnis in meinem georgischen Umfeld, wenn ich erzähle, dass ich erwachsenen Menschen Klavierunterricht gebe. Eine Hausfrau und Mutter, die neben Haushalt und Familie Zeit hat, um Klavier zu spielen? Ein Familienvater Mitte Fünfzig, der seinen Gesang von meinem Klavierspiel begleiten lässt - einfach so, aus Freude?


Das Verhältnis der Georgier zur Musik ist ambivalent. Das gemeinsame Singen bei Feierlichkeiten wird nicht in Frage gestellt, schließlich ist es Teil der georgischen Tradition. Aktives Musizieren am Klavier jedoch gehört nicht zum Alltag der georgischen Gesellschaft.


Warum aber zieren dann die Klaviere die Wohnzimmer der gehobenen Mittelschicht?

Als Konzertpianistin weiß ich, dass die allermeisten dieser Klaviere tatsächlich nur zur Zierde da stehen. Sie sind ein Statussymbol, das mit Zierdecken, Bilderrahmen der lieben Verstorbenen, Zimmerpflanzen und allerlei Nippes dekoriert wird. Leider.

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